Erfahrungsbericht

Liebe EliMar,

ich wollte mich noch einmal für den gestrigen Stressbewältigungskurs bedanken. Der war eine sehr interessante Erfahrung, gerade weil er nicht so viel mit dem zu tun hat, was ich sonst so mache. Die überlegte, aber dennoch Freiraum lassende Gestaltung des Kurses gefiel mir sehr gut und ich fand auch die Kommunikationsübung nicht schlecht – sie hat mir zwar nicht sonderlich gefallen, aber sie zwang mich in eine Situation, die ich sonst nicht erlebt hätte, was ein aufschlussreicher Schritt aus der Komfortzone war. Nicht alles, was unangenehm ist, ist schlecht.

Beim Einschlafen gestern hatte ich eine kleine Realitätsverschiebung: Kurz hatte ich den Eindruck, wieder in dem FU-Sportraum mit Dir und den anderen zu sein, so als wäre ich bei der Bauch- bzw. Rückenlagenübung eingeschlafen und mit einem leichten Schreck wieder aufgewacht. Daran merkte ich, wie intensiv diese Stunden waren.

Ganz besonders interessant fand ich zwei Dinge:

Erstens Deine Ausführung darüber, dass man nicht alles interessant finden muss und dass es letztlich kein absolutes Richtig oder Falsch in der Stressbewältigung und Meditation (und letztlich wahrscheinlich auch Lebensführung) gibt, sondern dass der letzte, wichtigste Anhaltspunkt die eigene Natur ist. Solche Appelle hört man ja öfter, aber ich habe ihn noch nie so authentisch und eindringlich gehört wie von Dir. Deshalb war es auch das erste Mal, dass ich diese Aufforderung ernst nahm. Bei Dir kam Leidenschaft durch, als Du das sagtest und in Kombination mit Deiner offensichtlichen Erfahrung in dem Feld kam das eindrucksvoll rüber.

Zweitens fand ich es einfach wunderbar, dass Du gesagt hast, dass man durch Meditation und Achtsamkeit keine „Lusche“ wird. Du hast genau dieses Wort benutzt und ich danke Dir dafür. Die Angst davor, zu einem zahnlosen Weichei zu werden, das nicht für sich selbst einsteht, war es nämlich für eine lange Zeit, die mich vor Meditation, Achtsamkeit, Yoga und allen diesen Dingen abschreckte. Nenn mich altmodisch, aber ich will ein starker, kraftvoller, wehrhafter Mann sein. Es ist mir wichtiger, meine Mutter auf der Straße vor einem besoffenen Pöbler schützen zu können, als ein meditativer Yogaguru zu sein (bewusst überspitzt formuliert). Daher war es nur folgerichtig, dass ich erst in den Boxsport einsteige und merke, dass niemand zaubern kann: Wenn einer mich schlagen will, muss er erst mal an mich rankommen und auch ohne eine professionelle Boxerausbildung lernt man relativ schnell, wie man ausweicht, jemanden auf Distanz hält und kontert (natürlich ohne Garantie, aber man entwickelt ein Gefühl dafür). Seitdem fühle ich mich vollkommener als Mann und habe ein neues Lebensgefühl. Ich laufe die Straße entlang und sehe die Menschen mit neuen Augen, empfinde auch meine Rolle im sozialen Gefüge neu und nehme meine Verantwortung wahr: Wenn sich z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln ein Konflikt zwischen zwei Personen anbahnt, dann ist es eindrücklicher für die Streithähne, wenn ich als überdurchschnittlich großer Mann hingehe und mich mit ruhigem Nachdruck erkundige, ob alles in Ordnung ist, als wenn eine kleine Frau das tut. Das ist meine Stärke, da kann ich mich sinnvoll einbringen und konnte so schon mehrere Konflikte auflösen. Je mehr ich zu meiner Natur als Mann, als Mensch, als Sohn, Bruder, Freund finde, desto besser geht es mir. Jetzt habe ich so viel geschrieben und wollte eigentlich nur sagen: Inzwischen empfinde ich Meditation und Achtsamkeit nicht mehr als weiche, luschenhafte Angelegenheit, die meiner Manneskraft im Wege stünde, sondern ich erlebe diese spirituellen Aspekte als verstärkend und bereichernd. Zugegebenermaßen ist es mir immer noch eine höhere Priorität, schlagfertig, humorvoll, charmant und körperlich wehrhaft zu sein, aber ich stelle ja eigentlich gerade fest, dass alles das nur verbessert wird, indem ich mich für Meditation und Achtsamkeit öffne. Das Leben ist eben mehr als nur Rationalität und hedonistische Bedürfnisbefriedigung und je weiter der Horizont ist, desto interessanter ist man als Person.

Die gestrige Truppe war entspannt, besonders der Bäckergang mit Anja war nett und die Mittagspause hätte meinem Geschmack nach länger sein können, um außerhalb des Kursrahmens ins Gespräch zu kommen. Auf der anderen Seite hätten wir dann weniger Programm geschafft, also war es auch so gut, wie es war.

Danke nochmal, dass Du diesen Kurs angeboten hast. Er scheint mir eine große Schatztruhe zu sein und seine Inhalte werden sich nach und nach in meinem Leben entfalten und niederschlagen, da bin ich mir sicher. Heute habe ich auch schon eine Einheit des Meditationseinführungskurses absolviert und wusste nach gestern ein bisschen besser, warum ich das tue.

Viele Grüße und hoffentlich auf ein Wiedersehen an anderer Stelle

Anatole

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